Die grauen Omas – warum ist Grau so in?

In Deutschland scheinen alle Frauen über 60 die gleiche Frisur zu haben. Eine Analyse.

Omas mit grauen Haaren und Dauerwelle

Omas mit grauen Haaren und Dauerwelle

An dieser Stelle muss mit einem Tabu gebrochen werden, einem der letzten in der ohnehin schon weitgehend tabulosen deutschen Mediengesellschaft. 1991 war es, als Marion Gräfin Dönhoff, über Jahrzehnte Chefredakteurin und Herausgeberin der ZEIT nach der Lektüre eines Artikels über den so genannten Starfriseur Gerhard Meir sagte, die- ser sei »der erste und letzte Friseur«, über den in ihrer Zeitung geschrieben worden sei. Von da an hatte der ZEIT Redakteur beim Thema Haare gewissermaßen die Schere im Kopf.

Jetzt aber muss das vergessen sein. Denn an dieser Stelle geht es um mehr als Strähnchen, Föhnwellen und all die andere heiße Luft, die sonst noch gemacht wird im Coiffeurgewerbe. Es geht um unser Deutschlandbild. Und um unsere alternde Gesellschaft, in der schon jetzt ein Phänomen immer augenfälliger wird – hierzulande scheinen fast alle Frauen ab 60 die gleiche Frisur haben.

Man kennt das ja. Autobahnraststätte Garbsen bei Hannover.
Ein Reisebus rollt an. Der Fahrer öffnet die Tür, und heraus steigen ältere Damen, die sich ähneln wie eine Rentnerin der anderen. Wie konnte es nur so weit kommen?

In diesem freiheitlich-individuell geprägten Land, in dem mancher sein ganzes postpubertäres Leben in dem Wahn verbringt, sich in der (wenn auch nur in Nuancen) hipperen Jeans zu zeigen als die Schulhofkonkurrenz oder ein teureres Auto zu fahren als der Nachbar und niemals die gleiche Abendgarderobe zu tragen wie die Partygastgeberin, in diesem Land, in dem sich sogar die sozial Abgehängten »lch-AG« nennen sollen, hier also ziehen sich ganze Busladungen, ganze Generationskohorten bei Überschreiten einer unsichtbaren Alterslinie zurück in Gleichheit und Verwechselbarkeit.

Das Satiremagazin Titanic fasste sie einmal unter dem Begriff »Silberzwiebeln« zusammen.

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Natürlich geht es hier nicht darum, sich über alte Leute lustig zu machen. Jede Generatior trägt ihre Turnschuhe oder ihre Uniform, und auch die derzeit besonders aufwändig zurecht gemachten Jungschnösel in Berlin, München und Hamburg mit ihren strähnigen Haaren und Sonnenbrillen, groß wie Windschutzscheiben sehen letzten Endes doch wieder sehr gleichförmig aus. Aber wenn es nun stimmt, dass die Frisur eine der am leichtesten zu beeinflussende Ausdrucksformen der Persönlichkeit ist, ebenso Selbstzitat wie Statement zur Welt, und wen Punk Protest war, was ist dann die einheitsgraue Rentnerinnen-Dauerwelle?
Frisurgewordenes Eingeständnis des Alters? Absage an die Ästhetik?Abschied von der Lebensfreude?
Vor allem aber: Lässt man sich die freiwillig machen?

»Oberflächlich betrachtet, nicht«, antwortet da zur Entlastung einer ganzen Generation Christian Janecke (wobei vom »oberflächlich be- trachtet« noch die Rede sein wird). Janecke ist Inhaber der Wella Stiftungsdozentur für Mode und Ästhetik an der TU Darmstadt und einer der wenigen im Land, die sich wissenschaftlich mit dem Thema Frisuren beschäftigen. Zwei Bücher hat er dazu geschrieben, Haar tragen und Tragbare Stürme. Janecke zufolge ist das deutsche Dauerwellenphänomen zunächst ein rein biologisches: »Im Alter verändert sich der Anteil Gesichtsfläche zu Kopf, und zwar nach unseren ästhetischen Vorstellungen unvorteilhaft: Das Gesicht sackt zusammen, wird oft kleiner, spit- zer, der Schädel wird aber zugleich länger, Ohren und Nase werden größer- und dazu kommt eben, dass die Haare schwinden.«

Früher trugen alte Damen Hüte, heute tragen sie einen Haarhelm

Bei Frauen beginnt der Haarausfall mit etwa 50 Jahren; bereits mit 60 kann jedes fünfte Haar verloren sein. Männer, sagt Janecke, hätten dann »andere Formen der Kompensation«, die offensiv rasierte Glatze beispielsweise, »Frauen hingegen müssen immer Haar zeigen, deshalb betrei- ben sie eine Art Restauration auf dem Kopf, eine Art Instandhaltung. Deshalb werden einige Frauen ihre Altersfrisur durchaus als Kontinuum verstehen – hergeleitet aus der Zeit, in der
sie jung waren.« , Was für junge Beobachter also wie der bewusste Schritt ins Alter wirkt, kann für manch betagte Dame durchaus die Verlängerung der fünfziger Jahre mit chemischen Mitteln sein. Im Friseurspiegel sieht sie dann nicht nur eine alte Frau, sondern durchaus auch eine hauchzarte Erinnerung an Doris Day.

Die weibliche Reaktion auf Haarverlust ist weltweit gleich, sagt Janecke; sie wird big hair genannt und ist am besten an der Gattung der First Ladys wie Nancy Reagan oder Hannelore Kohl zu studieren: “Die toupieren dann oder machen eine Dauerwelle. Hauptsache, Volumen, Volumen, Volumen.«

Vor wenigen Jahrzehnten noch hätten ältere Frauen ihr Weniger an Haar mit einem Mehr an Hut ausgeglichen, doch seit Hüte aus der Mode seien, liefen sie mit diesem grauen »Haarhelm« rum.

Und das ist der Punkt, an dem Winfried Löwel erwähnt werden muss. Löwels Stimme wird sehr getragen beim Thema “Haarhelm«, derart traurig, als rede er von einer nationalen Tragödie, schlimmer noch als die Arbeitslosen- zahlen. Löwel ist Kreativdirektor des ZDF, was in diesem Fall für Zentralverband des deutschen Friseurhandwerks steht, ein hoher Frisurenfunktionär, einer aber, »der noch selbst am Stuhl steht«, wie das im Verband heißt – der vor allem aber am Stuhl leidet unter der so stark nachgefragten Altfrauenfrisur, die derart öde ist, dass sie in der Branche nicht mal einen Namen hat. Früher soll sie »Berber« geheißen haben, heute sagt man »Omi-Dauerwelle« oder auch »praktische Dauerwelle«. Löwel nennt sie »Tussi-Frisesur«. Bei den Kundinnen heißt sie » Wie immer

Dieses »Wie immer« erklärt für Löwel das Problem, ist es doch Ausdruck von Anspruchslosigkeit: Die deutsche Seniorenfrisur muss nicht schön sein, sondern praktisch. Und das, wenigstens das ist der Haarhelm auch: »Damit sind die Damen davon befreit, sich täglich die Haare zu waschen und mit den Armen überm Kopf an einer Föhnfrisur zu arbeiten -mit ihrem Rheuma. Morgens durchbürsten reicht ja.« Je krauser und kleiner übrigens die Welle, desto länger hält das Konstrukt. Das erklärt die »Pudelkrause«, die graueste aller Graufrisuren, die für Löwel noch unansehnlicher wird, »Wenn die Damen nach ein paar Wochen mit zwei Zentimetern Nachwuchs rumlaufen«. Diese Frisuren sind Löwels Albtraum, Unglück der Branche, millionenfach wandelnder Imageschaden. Außerdem verdient man nicht viel damit. Sie halten ja ein Vierteljahr.

In Italien, sagt Löwel, »da sehen Sie diese Tussi-Frisuren nicht. Klar, das romanische Haar ist von Natur aus fester, gewellter, aber da tragen die Frauen auch andere Schuhe. Und Handtaschen!« Ach ja, das romanische Haar. Die romanische Frau vor allem! Die deutsche ist im vorigen Jahr durchschnittlich 5,66-mal zum Friseur gegangen. Die Italienerin geht doppelt so oft -und nie kommt sie als Pudel nach Hause, immer als Grazie – Grund genug, die Auslandskorrespondenten um soziokulturelle Expertisen zu bitten.

Gibt es in Sachen Frisuren etwa einen deutschen Sonderweg? Könnte es sein, dass Deutschland ein graues Wellenland ist inmitten des bunten Europas, der ganzen Erde gar?

Leider antwortet der Kollege aus Russland, er könne zu der Frage nicht viel beitragen, weil die Damen in Moskau jetzt schon wieder Mützen trügen, und das bis ins Frühjahr.

Auch der Korrespondent in den USA enthält sich, ganz im Dönhoffschen Sinne, eines Urteils, lässt aber seine Gattin ausrichten, das amerikanische Frauen- ideal scheine eher »das Mädchen« als die graue Maus zu sein. Sie fügt hinzu: “Dieses Ideal drückt sich aus in einem starken Hang zu Pink und Rosa und immer zu vielen Schleifen. Frisu- tentechnisch führt es jenseits der Sechzig dazu, dass hier ein Hang zu gefärbten Möchtegern- mähnen oder Pferdeschwänzen, manchmal sogar Zöpfen zu besichtigen ist, meistens begleitet von zu viel Rouge. Von den Operationen nicht zu sprechen. Aber Sie hatten ja nach den Frisuren gefragt.”

Aus Großbritannien schreibt der Korrespondent, »auch in England gibt es die blue rinse brigade«, die blaue Brigade also, »Damen mit blau schillernder Dauerwelle, die konservativ wählen, komme, was wolle. Seit die Tories ins Minderheitendasein abgeglitten sind, sieht man die aber immer seltener. Eine zweite Gruppe in die jahre kommender Britinnen lässt das Haar einfach hängen, strähnig, kraftlos, gott erbärmlich.
Das sind Überbleibsel der siebziger jahre, als im Land vorübergehend eine westliche Form des realen Sozialismus herrschte. Der Trend geht freilich in eine andere Richtung. Ein beträchtlicher Teil der Erträge des jetzt seit über zwölf Jahren ununterbrochen andauernden Wirtschaftswachstums wird beim Friseur für blondes Haar mit sorgfältig eingearbeiteten braunen und brünetten Strähnen investiert. Das Haar wird kunstvoll aufgebaut, damit auch 60 jährige wie 40 aussehen. Die moderne Britin trägt bis ins fortgeschrittene Alter ein gesundes, jugendliches Aussehen zur Schau. Sie tut alles, um ihren Sex-Appeal nicht zu verlieren. Die Frisur spielt dabei neben dem Auto – mit Vorliebe einen Land Rover Discovery -eine Hauptrolle.«

Aus China schließlich meldet der Korrespondent, im neuerdings etwas neureich gewordenen Reich der Mitte trügen ältere Damen immer noch die gleiche Frisur wie eh und je, als letzte Erinnerung an die Kulturrevolution
vielleicht.

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Was heißt das für Deutschland?
Wird hier spätsozialistische Gleichmacherei über die Köpfe Frauen hinweg betrieben? Oder ist das Modellein weiteres Indiz für
Genüge beschriebenen Abstieg der Bunc blik in Globalisierungszeiten? LäSst sich Sparquote eines Landes an den Haaren se niorinnen ablesen? In Deutschland wer< Eurostat rund elf Prozent des Nettoha einkommens auf der Bank geparkt, in G tannien nur sechs. Die Differenz scheir Friseur zu landen.

Womöglich aber ist das Problem viel älter. Frisurenforscher Janecke jedenfalls glaubt die typisch deutsche Zurückhaltung, was Äußerlichkeiten betrifft, ist im Land der Reformationen mit einer protestantisch motivierten
Ablehnung von Luxus und Lebensfreude ebenso zu erklären wie mit der fast schon traditionellen deutschen Elitenfeindlichkeit. Keine Nation habe sich derart der Gleichmacherei verschrieben, sagt Janecke, und das in mehreren Wellen.
Da waren die Revolutionen im 19. Jahrhundert, das Ende der Monarchie, dann die Nazizeit, der Neuanfang 1945, schließlich die DDR mit ihren Arbeite- und Bauern-Frisuren -und jedes Mal wurde die Deutschen gleicher.
Wenn man sich schon ernsthaft mit dem Thema auseinander setzt, dann auch richtig: Unser Frisurenforscher ist bis zu der These gekommen, dieser typisch deutsche Angleichungswahn bis hin zu heutigen Großmutterfrisuren habe seinen Ursprung im Abscheu gegen der Verschwendung des Adels, den gepuderten Fürsten mit ihren Plateauschuhen und Perücken.

»Der Wechsel vom Ancien Regime zum Bürgertum war nirgends so einschneide wie in Deutschland – eine Folge war, die Rolle des Alters in protestantischer, calvinistischer Strenge auf eine Art Authentizität zurückzunehmen. Damals kam die Vorstellung auf, dass Mode eine Sünde der Jugend und der Frau sein darf. Mit dem Alter aber muss die Frau sich sittsam zurücknehmen. Das tun die Frauen mit dieser Frisur. Unbewusst. Bis heute.«

Männer gehen in Deutschland öfter zum Friseur als die Frauen

Eine kleine Umfrage im Friseursalon ergibt tatsächlich, dass da vor allem Frauen unter Haube sitzen, die sich »noch nie so wichtig genommen« haben. Im Alter verzichten sie auch fisurentechnisch auf Eigenständigkeit,
auf Weiblichkeit.

Passend dazu die neuesten Zahlen des ZDF:

In Deutschland gehen Männer mittlererweile häufiger zum Haarschneider als Frauen, 7,08-mal pro Jahr. Vor allem die jungen Männer haben den Schnitt nach oben getrieben, Auslöser soll das Jahr 2002 gesen sein, in dem der Fußballspieler David Beckham erstmals mit einem Irokesenschnitt in den Stadien des Weltfußballs auftrat.[/B]

Eine Entwicklung, die Janeckes These vom deutschen Kulturprotestantismus nicht gänzlich schwächt: “Noch heute ist modisches Interesse in Deutschland eine Sünde der Jugend, verzeihbar als rebellische Durchlaufzeit. Hier ist die Vorstellt verpönt, dass man sich bis ins hohe Alter auffallend zurechtmachen und wie eine Fürstin auftreteten darf.”

So ist die Silberzwiebel wohl eine proletarische Frisur, deren sich inzwischen aber viele Milieus bedienen. Was zwischen Ost und West nicht gelingen will, ist damit zumindest auf den Köpfen längst Realität: die Angleichung der Lebensverhältnisse, die Nivellierung ins Einheitsgrau, der sich nur wenige Alte verweigern. Allenfalls pensionierte Lehrerinnen und Bibliothekarinnen unterstreichen ihren Bildungsstatus – wahrscheinlich unbewusst- damit, dass sie bis ins hohe Alter ihren Pagenschnitt beibe- halten, und sozialer Status wird höchstens vom hanseatischen und bayerischen Geldadel zur Schau gestellt.

In München, Hambur und Düsseldorf sieht man deshalb diese »Vogelnesterfrisuren«, wie der Frisurenforscher sie nennt, »wo man immer ein Ei drin ablegen möchte. Das sind diese Zahnarztfrauen, gut betucht, die BMW oder Mercedes fahren. Deren Frisuren verstehe ich als Versuch, etwas bürgerliche Aristokratie dazustellen, ein bisschen Majestätik zu konservieren.«

Nun wünscht man Deutschland weder die Monarchie zurück noch eine flächendeckende Geldadel-Geschmacklosigkeit – aber es gibt Hoffnung, dass das Frisurenproblem auch politisch korrekt zu lösen ist. Denn inzwischen altern auch die Hedonisten, all jene, die nun in den Medien als »Neue Alte« geführtwerden und die, so die Prognose, auch als Rentner weder ihre modischen noch ihre individualistischen Ambitionen aufgeben werden. Zudem gibt es die so genannten Alt-Girlies, insbesondere in Berlin – die sind zwar schon 50, tragen aber immer noch Zöpfe. Firmen wie LOreal, Wella und Goldwell haben auch in Deutschland längst ihre Pro- duktpalette für eine alternde Kundenschaft erweitert, die sie jetzt Bestager nennen.

Was für schöne Namen »alte Leute« plötzlich haben, wenn man an ihr Geld will.

Was bleibt? Abwarten. Vielleicht fernsehen und dabei die Entwicklung der Frisuren von Angela Merkel, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Sabine Christiansen und Iris Berben beobachten.
Ja, das hätte das Zeug zur Langzeitstudie. Wir werden also wieder berichten…
[Quelle und Fotos: Die Zeit]

Glückwunsch all denen die diesen wunderbaren Artikel bis hierher durchgelesen haben!
Ich finde ihn wunderbar – und er spricht mir in großen Teilen aus der Seele!

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